RIO REISER UND DIE SCHERBEN

Rio Reiser Grafik

Vom Underground der Subkultur mitten ins Herz

Rio Reiser war ein Meister der Authentizität, sowohl in seinen guten wie schlechten Zeiten. Und schon allein insofern ein Vorbild für uns angehende Abiturienten Ende der 1970er Jahre. Ein Künstler, damit er als Mensch existieren kann. Seine Stimme öffnete Visionen, so wie sie sich anfühlte, so wollten wir leben! Anarchist, links und schwul – na klar, das war in dieser Phase der Hausbesetzungen, Friedens- und Anti-AKW-Bewegung doch kein Ding, ganz im Gegenteil, Rio war richtig cool (dieser Ausdruck war damals allerdings noch nicht im Umlauf) und wir natürlich ebenso.

Ausstellungsraum Browse Gallery

Alle Mitglieder der Band „TON, STEINE, SCHERBEN“ sind heute legendär. Aber die Ikone dieses einzigartigen Bandformats war der begnadete Songschreiber Rio Reiser (bürgerlich Ralph Möbius), der in diesem Jahr 75 Jahre alt geworden wäre. Allem voran war da diese verführerische Stimme, mit ihrem einzigartigen Mix aus Power, Ehrlichkeit, Melancholie und Einsamkeit. Eine Power auch, die ihren politischen Weckruf mit poetischer Sehnsucht auf eine Weise zu verschmelzen vermochte, dass man Rio persönlich unter der eigenen Haut zu spüren glaubte. Obwohl er ja schwul und für mich Mädchen unerreichbar war, aber egal, irgendwie war seine Stimme sexy. Die Wahrhaftigkeit seiner Texte hatte etwas Überraschendes, gerade weil er als Mann so krass überrumpelnd ehrlich war. Vom Underground mitten ins Herz.

Zitat Claudia Roth

„Wenn der Frühling kommt und deine Seele brennt
Du wachst nachts auf aus deinen Träumen
Aber da ist niemand, der bei dir pennt
Wenn der, auf den du wartest, dich sitzen lässt
Halt dich an deiner Liebe fest
Halt dich an deiner Liebe fest.“
(aus: Halt dich an deiner Liebe fest, ©Ralph Möbius, Ralf Steitz) 
Rio stand offen zu seiner Homosexualität und stellte mit seiner politischen Meinung und seinem Lebensstil den Inbegriff eines Bürgerschrecks für die Elterngeneration unserer Zeit dar. Aber dennoch konnte sich niemand der Plausibilität seiner Worte entziehen, weil er den Punkt immer ganz genau im Kern traf.

Ausstellungsraum, Zitat Klaus Lederer

Gerade vor wenigen Wochen hatte ich TON, STEINE, SCHERBEN wieder aus meiner Mediathek herausgefischt, um wie früher die Lieder beim Autofahren laut mitzusingen. Diese Band verdient mehr Aufmerksamkeit, als zumindest ich ihr als unreflektierter Teenager damals geschenkt hatte, stellte ich fest. Kennt Rio Reiser und die Scherben heute überhaupt noch jemand? Also meine Tochter, Jahrgang 1989, sicher nicht. In meinem studentischen Umfeld damals kannte jeder diese Band mit ihren mutigen Songs, die auch noch frech auf Deutsch sang. Und selbst diese deutschen Texte haben uns nicht gestört, im Gegenteil, sie waren ja gerade Teil dieser Authentizität.

„Ich bin nicht frei, ich kann nur wählen,
Welche Diebe mich bestehlen, welche Mörder mir befehlen.
Ich bin tausendmal verblutet und sie ham mich vergessen.
Ich bin tausendmal verhungert und sie war’n vollgefressen.
Im Süden, im Osten, im Westen, im Norden,
Es sind überall dieselben, die uns ermorden.
In jeder Stadt und in jedem Land,
Schreibt die Parole an jede Wand.
Keine Macht für Niemand!

Das Politische und Poetische

„Macht kaputt, was euch kaputt macht“ sangen wir auf unseren Schülerparties laut mit. Ich nehme mir beim Autofahren fest vor, nach dieser Band, die mich so geprägt hat, intensiver zu recherchieren, sobald ich wieder zu Hause bin. Doch da kommt mir die Browse Gallery zuvor. (To browse, Englisch, „durchsuchen“.)

Foto aus der Kindheit

Seit 14. September bis zum 12. Oktober 2025 läuft ihre Ausstellung „Ecce Homo – Mein Name ist Mensch“ als dritter Teil einer Ausstellungsreihe, die dieser politischen Rockband gewidmet ist und mit der die Browse Gallery jetzt durch Deutschland tourt. Politische Positionen sind Reaktionen des Vorangegangenen. „Wir müssen Geschichte tiefer verstehen. Wir leben jetzt in einer Demokratie, die herausgefordert ist, ihre Diskussionen und Differenzen anzunehmen“, sagt John Colton (Browse Gallery). Geschickt ordnet die Ausstellung das Leben und Werk Rio Reisers in seinen historischen Kontext (siehe dazu unbedingt die Videos im Nebenraum). In Songs, Rockballaden und mit eingängigen Melodien haben die vier Jungs ihre Botschaften, „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, „Keine Macht für niemand“ oder „Wenn die Nacht am tiefsten ist…“ den Massen der sich gerade bildenden, politischen Linken Mitte der 1960er Jahre verkündet. Zeit- und genretypisch standen sie dabei meist unter starkem Drogen- und Alkoholeinfluss. Wir, oft genug selbst fast noch Kids, auch nicht gerade selten …

Ein politisches Résumé aus heutiger Perspektive: Es gibt deutliche Parallelen zwischen den gesellschaftspolitischen Spannungen und Reibungen zur „Scherben“-Zeit und unserem aktuellen Geschehen. Damals wie heute ging es um die Frage, wo genau sich die sogenannte Demokratie nicht nur verbal, sondern auch mit ihren Taten positioniert? In jenen ersten Jahren der 1960er — als zwischen dem Trauma des 2. Weltkrieges, der systematischen Völkervernichtung, die ehemaligen Nazis von den west- und ostdeutschen „Demokratien“ noch geschützt und gesellschaftlich integriert wurden — bildeten sich unter Studenten und Künstlern ja bekanntlich viele kritische Stimmen, aus denen sich auch innerhalb der westdeutschen Linken mit APO, Studentenbewegung, RAF, Bewegung 2. Juni usw. sehr unterschiedliche Lager herauskristallisierten. Die Scherben nahmen anarchistische Statements für sich ein. Als erwachsene Studenten hielten wir bis Ende der 1980er Jahre viele historische Irrwege für überwunden. Erst recht mit dem Machteinbruch des Ostblocks 1989/90. Doch nicht einmal 70 Jahre nach Ende des letzten Krieges stehen die Demokratien wieder auf der Kippe. Heute ist es nicht die Linke, sondern die Rechte, die, wie anno 1930, mit Lügen und Diskriminierungsparolen Wählerstimmen fängt.

Ausstellungsplakat

Auch geht es aktuell um die Fragen, wie wir unsere „demokratischen Werte“ denn definieren und ausleben möchten, — unter einem politischen Establishment, das sich für die Lage ihrer Mitbürger mit plus einer Million Euro auf dem Bankkonto stärker einsetzt, als für Menschen, die ihre Mieten trotz regelmäßigem Einkommen nicht bestreiten, Alte, deren Renten den eigenen Lebensunterhalt gar nicht schaffen können, Krankenhäuser und Schulen, die verrotten.
Es müsste unserer politischen Elite doch um Menschliches wie Gerechtigkeit, Zusammenhalt statt Diskriminierung gehen, um die Zukunft und ihre Kinder, damit diese später genug Grips haben, um den wirtschaftlichen und ökologischen Schaden wieder auszubaden, den unsere Generation hinterlassen hat. Es müsste um den Erhalt des Friedens und ökologischen Gleichgewichts gehen. Aber momentan denken alle nur noch an Macht, Profit, Rohstoffe, Krieg, Waffen und Verteidigung. Und: Ihr Auto. Wieder stehen unsere Gesellschaften weltweit vor der Entscheidung, hinzugucken und zu handeln oder wegzuschauen und für eine kleine, gesellschaftliche Elite Demokratie zerstörende Zustände schönzureden.
Liebe „Scherben“, wir bräuchten Euch jetzt und hier.  

Zitat John Colton

Die Browse Gallery fragt mit ihrem Ausstellungszyklus zu Recht: „Was kann Kultur?“ Rio würde vielleicht formulieren: „Was muss Kultur?“
Als ich die Ausstellung beseelt und gedankenversunken verlasse, begegne ich an der Ampel einer ehemaligen Arbeitskollegin. „Hi, was machst du denn hier?“, fragen wir uns gegenseitig. „Ich komme gerade von einer guten Ausstellung über Rio Reiser.“ — Sie: „Ach, wie schön. Mein Sohn heißt auch Rio.“ — „Rio wie Reiser?“. — „Ja.“ Sie lacht vielsagend. Vielleicht gibt es sie ja doch noch, die Rios …

 

Zu diesem Thema siehe auch:
http://www.3sat.de/kultur/protest-songs/protest-song