Gerangel am Speckgürtel
Der Bezirk Treptow-Köpenick liegt am südöstlichen Stadtrand von Berlin an der Grenze zu Brandenburg. Die enormen Pendlerströme sind nur einer der Brennpunkte, die Bezirksbürgermeister Oliver Igel (SPD) bewältigen muss. Die Wahlen im Herbst werden auch seine Amtszeit zur Diskussion stellen.
Der ehemals jüngste Bürgermeister der Stadt, Oliver Igel, ist heute 43 Jahre alt. Er kennt das Ladengeschäft Kietz 18 in Köpenick seit seiner eigenen Kindheit. In dieser hübschen Straße mit ihren slawischen Fischerhäuschen führt seit zwei Jahren die Fashiondesignerin Joannah Menke aus Uganda ihr kleines Start-Up-Unternehmen. „Jeder muss eine Chance bekommen“, sagt Igel und erkundigt sich nach den persönlichen Erfahrungen der Ladeninhaberin in seinem Wahlkreis. Wenn es um Themen wie Ausländerfeindlichkeit geht, überzeugt der Bürgermeister authentisch. Harte Konfrontationen duldet er nicht.
Vor zehn Jahren hat der SPD´ler das Amt des Bezirksbürgermeisters übernommen. Doch nicht in allen Bereichen kommt er so überzeugend rüber. Vieles in diesem Stadtgebiet ist auch einfach anders als in anderen – und das liegt nicht nur an dem Sorgenkind BER-Flughafen, sondern hat auch geschichtliche und regionalspezifische Gründe. Einerseits war Treptow-Köpenick lange Zeit das größte aber gleichzeitig das bevölkerungsärmste Gebiet, es ist auch der wasser- und waldreichste Bezirk von ganz Berlin. Inzwischen zählt er fast 280.000 Einwohner und steht damit an neunter Stelle der insgesamt zwölf Bezirke.
Kritik kommt von der Opposition
In der aktuellen Bezirksverordneten-versammlung hat die SPD mit 15 Sitzen eine knappe Mehrheit, eng gefolgt von der Linken (14 Sitze) und der AfD (12 Sitze). Die CDU hat 7, die Grünen 5 und die FDP 2 Sitze inne. Im Herbst stehen nun Kommunalwahlen an, einige Politiker sind vorsichtig mit ihrer politischen Bilanz, niemand möchte sich mit den Äußerungen zu weit aus dem Fenster lehnen, um potenzielle Zusammenarbeiten in der Zukunft nicht zu gefährden. Der Fraktionsvorsitzende der Linken, Philipp Wohlfeil, sagt auf Nachfrage über die Bezirkspolitik der letzten fünf Jahre: „Manchmal kann ich mir eine noch bürgerfreundlichere Verwaltung vorstellen. Aber die Zusammenarbeit mit der SPD unter Oliver Igel hat ganz gut funktioniert.“ Igel sei ein „Aktenfresser“ und kenne sich in Details gut aus.
Das Thema Wohnraum ist brisant
Genügend Wohnraum im so genannten Berliner Speckgürtel stellt für alle eine Herausforderung dar. Treptow-Köpenick verfügt über Fläche während Berlin unter dem akuten Wohnungsmangel stöhnt. Es wird gebaut, was das Zeug hält, rund 3000 neue Wohnungen jährlich sind in Planung: „Wir können nicht einerseits über Wohnungsmangel klagen und uns andererseits dagegenstemmen“, sagt Oliver Igel über die Bedenken, die Anwohner und Opposition zu diesen gigantischen Bauvorhaben äußern. Es ist nicht nur die Angst, dass sich in Anbetracht mehrerer Tausend neu Hinzugezogener zu viele Veränderungen in zu kurzer Zeit anbahnen und Grünflächen dann zum Beispiel mit Parkplätzen zubetoniert werden könnten. Sondern es geht auch um die Befürchtung, dass die entsprechende Infrastruktur wie Schulen, Kitas und Verkehrsanbindungen nicht zeitgleich mitwachsen. Da Berlin wohl kaum einen Mangel an teurem Wohnraum aufweist, ist an der eindrucksvollen Zahl der geplanten Neuwohnungen eigentlich nur der bezahlbare Wohnraum interessant. Wohlfeil: „Die Wachstumsschmerzen gehören dazu. Aber für die Linke sind die meisten Wohnungen zu teuer und sie stellen keine Verbesserung für die sozial Schwächeren dar.“ Die sozial Schwächeren wären eigentlich die Mehrheit, Igel beschwichtigt: „Etwa ein Drittel dieser neuen Wohnungen soll über kommunale oder städtische Wohnungsbaugesellschaften zu einem fairen Mietpreis von etwa Euro 6, 50 pro Quadratmeter vermietet werden.“
Hauptstadt der Wissenschaft, Wirtschaft und Medien
Der Bezirksbürgermeister ist von seinen Arbeitsergebnissen überzeugt: Im Gegensatz zu 2011 schreibe seine Haushaltskasse nunmehr schwarze Zahlen. Das habe mit der Ansiedelung zahlreicher, innovativer Unternehmen in seinem Bezirk zu tun. Darüber hinaus habe sich sein Bezirk als „Stadt der Wirtschaft, Wissenschaft und Medien“ gar bundesweit einen Namen gemacht. Dass Innovationen wie das EU-geförderte rund 1000 Unternehmen umfassende Zentrum für IT und Wissenschaft WISTA in Adlershof beispielsweise hier so schnell und unkompliziert bauen konnten, schreibt sich auch der Bürgermeister ans Revers. Die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) wird perspektivisch ganz nach Schöneweide ziehen und die internationalen Studentinnen und Studenten aller Couleur verändern dort das Straßenbild sichtbar.
Links oder rechts – wo geht's lang?
Charakteristisch für den Bezirk Ober- und Niederschöneweide sind noch weitere Faktoren wie der hohe Anteil an AFD-Wählern und die ausgeprägte Kunst- und Kulturszene von durchaus internationaler Relevanz beispielsweise. Hier reichen sich sozusagen die Besucher des „Kunstquartiers“ Schöneweide und Späti-Alkis abends nach dem Ausstellungsbesuch am Straßenbahnhäuschen die Hände. Seit Jahren wirkt Schöneweide als säße sein Phönix nur in den Startlöchern, aber der Durchbruch passiert nicht, dabei wäre es doch so einfach, dieses kulturelle und künstlerische Potenzial konsequent als Kunststandort zu vermarkten. Für den Bereich Kultur ist die Stadträtin Cornelia Flader von der CDU verantwortlich. Doch es gab Querelen mit der eigenen Partei, kürzlich ist sie aus der Partei ausgestiegen und zu den Freien Wählern gewechselt. Geschäftsführer der Novilla, Lutz Längert wird deutlich, ihm fehlen kulturpolitische Visionen seitens des Bezirks: „Ich würde mir mehr Engagement für die Kultur wünschen. Die Verantwortung an den Senat abzuschieben, funktioniert nicht.“Das Herz des für die Abteilungen Personal, Finanzen, Wirtschaft und Immobilienwirtschaft zuständige Oliver Igel schlägt für das, was er unter wirtschaftlichem Fortschritt versteht, Kultur nennt er darunter nicht. Manch einem bleiben seine ganz persönlichen Visionen zu blass, seine Politik wirke wie die eines „Bundespräsidenten“ für den Bezirk. Ob es an mangelnder Leidenschaft oder der systembedingten Tatsache liegt, dass ein Bezirksoberhaupt seinen Stadträtinnen und -räten gegenüber per Gesetz keine Weisungsbefugnis hat, sei dahingestellt, Igel selbst würde sich jedenfalls mehr Weisungsbefugnisse wünschen.
Die CDU sieht das anders
Für die CDU ist das keine Ausrede. Der 27-jährige Wahlkreiskandidat für Treptow-Nord, Dustin Hoffmann (CDU), ist Mitglied des Bezirksparlaments mit Schwerpunkt Wirtschaftsförderung und Tourismus. Seine Bilanz der SPD-geführten Bezirkspolitik fällt durchwachsen aus: „Ich vermisse eine gewisse Strahlkraft, sowohl in der Effizienz verschiedener Projekte wie auch in der Person des jetzigen Bezirksbürgermeisters. Diese Qualität spüre ich nicht“, sagt er. Das touristische Potenzial dieses außergewöhnlichen Kiezes mit seinem Müggelsee, Flüssen und Wäldern, Orten wie Köpenick und Friedrichshagen, Kunst und Kultur, dem Treptower Park oder auch einzigartigen Industriegelände in Schöneweide, sei für alle Touristen attraktiv – theoretisch. Vor einigen Jahren habe der Bezirk dann auch sehr viel Geld in den Aufbau des Tourismusvereins Treptow-Köpenick gesteckt. Hoffmann: „Das Ergebnis all dieser Bemühungen ist mir zu dünn. Touristisch könnte sich Treptow-Köpenick viel besser verkaufen.“
Der Ausgang der Kommunalwahlen im Herbst ist extrem spannend und lässt sich kaum prognostizieren. Auch der demographische Wandel hat sich bereits bemerkbar gemacht: Der Anteil der über 45-Jährigen in Treptow-Köpenick liegt schon fast bei 50 Prozent. Bleibt zu hoffen, dass diese ihre Kreuze am 26. September 2021 an jene Stellen setzen, die ihren Enkeln zu einer demokratischen, sozial fairen und ökologisch lebenswerten Zukunft verhelfen.
Pendeln ist hier Alltag
Der Bezirk liegt an der südöstlichen Stadtgrenze. Hier verschmilzt das Treiben der Brandenburger und Berliner auf geradezu organische Art und Weise miteinander. Oliver Igel: „Viele Anwohner gehören zwar formal zu Berlin, aber eigentlich ist ihnen Brandenburg viel näher. Auch bewegen sich natürlich viele Brandenburger zu uns beziehungsweise durch uns durch, sei es in ihrer Freizeit oder weil sie aus dem Umland kommen und in Berlin arbeiten.“ Die logistische Menschenverschiebung zwischen dieser Stadt- und Landesgrenze ist enorm. Auf den großen Zufahrtsstraßen, der Autobahn, in Straßenbahnen, Bussen und S-Bahnen bewegen sich an Werktagen allein aus den Gemeinden Erkner, Rüdersdorf, Grünheide, Spreenhagen, Königs-Wusterhausen, Gosen Neu-Zittau, Woltersdorf täglich rund 30.000 Menschen in Richtung Berlin und gut die Hälfte in die umgekehrte Richtung. Viele Straßen waren aber bei Igels Amtsübernahme in einem maroden Zustand und mussten saniert werden. Der Bezirk verfügt über 116 Brücken, auch davon müssen viele instandgesetzt werden. Schon seit 2017 kann man auf der 70 Millionen teuren, 420 Meter langen Minna-Todenhagen-Brücke die Spree überqueren, was täglich rund 37.000 Fahrzeuge nutzen, die sich allerdings immer noch auch auf den Zufahrtsstraßen stauen. Derart große Bauvorhaben sind ausschließlich Sache des Berliner Senats sind. In Bezug auf die Bewältigung der Pendlerströme sind sich SPD und Linke nicht ganz einig. Philipp Wohlfeil (Die Linke): „Die vom Bürgermeister favorisierte Autobahnverlängerung der A 100 macht in Anbetracht der Klimaschutzziele keinen Sinn, besser wäre es, die Angebote des öffentlichen Verkehrs auszuweiten.“ Sobald die geplanten 10.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des US-Autobauers Tesla in Grünheide erstmal ihre Jobs angetreten haben werden, wird es voraussichtlich zu neuen verkehrstechnischen Knotenpunkten am Bahnhof und dem Logistikzentrum Freienbrink kommen.