Musik, die man sehen kann

Uwe Scholz. Das ist ein Name, der in der Ballettwelt die ganz großen Reaktionen auslöst. Als er 1985 mit nur 26 Jahren die Leitung des namhaften Ballettensembles der Oper Zürich übernahm, war er der jüngste Ballettdirektor Europas. Vielen gilt das von Marcia Haydee entdeckte Talent aus der Stuttgarter Schule John Crankos auch heute als „Jahrhundertchoreograf“. Bis zu seinem Tod 2004 hatte der erst 43-jährige Scholz nahezu 70 Ballettstücke geschaffen. „Meine Ballette sind keine Handlungsballette, sondern Seelenlandschaften“, soll er einst über seine sinfonischen Ballette im neoklassisch-zeitgenössischen Stil gesagt haben. Dabei stand Scholz‘ choreografische Perfektion auf der Bühne auch in einem gewissen Gegensatz zu seinem irdischen Leben. Er war ein feinfühliger Künstler, ein Workaholic, der den Druck spürte, dem er ausgesetzt war. Der deutsche Meister der Musikchoreografie, der international in einem Atemzug mit Größen wie Jiří Kylián oder Hans van Manen genannt wird, verstarb in Bad Saarow (Brandenburg) viel zu früh an einer Lungenentzündung u.a. als Folge seiner Alkoholkrankheit. Umso wichtiger ist, dass sein Werk auch heute weiterlebt. „Uwe Scholz verfügte über eine außergewöhnliche Musikalität, wie ein Dirigent las er Partituren vom Blatt und es gelang ihm, die musikalischen Vorlagen in vollkommene, getanzte Ästhetik zu transformieren“ sagt Nadja Kadel, die sich mit ihrer Berliner Agentur für die Erhaltung des Tanzerbes Uwe Scholz einsetzt und mit Kati Burchart Herausgeberin des Buches „Zeitsprünge / Leaps in Time. Uwe Scholz“ ist. Ähnlich wie Balanchine übersetzte Uwe Scholz oftmals jeden einzelnen Ton in einen Schritt, in seinen Choreografen hört man die Musik nicht nur, sie wird sichtbar gemacht. „Ein ganz besonderes und kontrastreiches Solo ist das Stück „Piano Rag Music + Tango“, das im ersten Teil technisch und rhythmisch sehr schwer zu tanzen ist, im zweiten Teil einfach schön und lasziv“, weiß Kadel.

Giovanni Di Palma hat das rasante Solo selbst getanzt.

„Jeder Schritt auf der Bühne ist gefüllt“, sagt auch Giovanni di Palma. Der ehemalige 1. Solist im Scholz-Ensemble an der Oper Leipzig von 2000 bis 2009 ist ein Experte für viele Scholz-Choreografien und wird von den Ballettcompagnien weltweit für die Probenarbeiten an diesen Stücken eingeladen.
Di Palma spricht fließend fünf Sprachen, gestern war er in Sao Paolo, heute ist er in Cottbus, morgen wird er vielleicht in Amsterdam, Düsseldorf oder Tokio sein. Dieser Tage probt er das Stück „Piano Rag Music + Tango“ mit dem Cottbuser Tänzer Stefan Kulhawec.

Di Palma kennt die Choreografie in- und auswendig, hatte er sie doch selbst und zum Abschluss seiner eigenen Tänzerkarriere vor einigen Jahren beeindruckend umgesetzt. Noch immer existiert ein Youtube-Video mit dem damals Mitte 30-jährigen Tänzer.

Schnell, schneller, am schnellsten.

Das facettenreiche Solo, das Scholz 1984 ursprünglich für den Tänzer Mark McClain und einen Pianisten schuf, ist nur gute zehn Minuten lang. Doch zehn Minuten sind 600 Sekunden. Schon das Tempo der musikalischen Vorlage des Russen Igor Strawinsky ist rasant, die Komposition aus dem Jahr 1919 offenbart bereits Swing- und Tangoklänge der 40er Jahre. Scholz‘ Choreografie „füllt“ quasi jeden einzelnen Ton mit einer neuen Balance, Drehung, Position. Schnell, schneller, am schnellsten – „untanzbar“ munkelt man unter Tänzern. Und fast unfair, dass der junge Di Palma auf Youtube so leichtfüßig das Gegenteil beweist, denn im Moment scheinen im Probensaal des Staatstheater Cottbus selbst die Sauerstoffmoleküle im Takt der eiligen Positionswechsel zu schwingen. Die Tänzer wirbeln durch den Saal, während Di Palma zuversichtlich Mut macht. Plötzlich rutscht einer aus, stürzt, flucht und rappelt sich schnell wieder auf. Nach einem Durchlauf ringen die Tänzer um Luft wie ein Sprinter nach seinem 100-Meterlauf. Beherzt fordert Di Palma Stefan Kulhawec auf, sein Passé  — eine Position, bei der die Fußspitze des einen Fußes auf Kniehöhe an der Innenseite des anderen Bein angelegt wird — doch einen Zentimeter höher anzusetzen, damit er um den Bruchteil einer Sekunde schneller in die nächste Pirouette kommt. Geschwind demonstriert der ehemalige Startänzer diese Position auch gleich selbst und wirkt dabei, als könne er das schwierige Solo sofort auf das Parkett legen. Aber das täuscht, tanzen kann Di Palma heute fast besser als laufen, sobald er den Ballettsaal verlässt, werden beim normalen Gehen ernste Problem in den Hüft- und Kniegelenken sichtbar, eine Folge seiner intensiven Körperarbeit auf höchstem Niveau. 

Die Erfahrungen des berühmten Extänzers sind für den Cottbuser Tänzer Stefan Kulhawec kostbare Informationen. Di Palma standen seinerzeit nur zwei Tage zur Verfügung, um dieses Stück zu lernen. „Ich bin froh, dass ich mehr Zeit hatte“, sagt Kulhawec. „Giovanni überhäuft mich auch nicht mit seinen Tipps. Aber die, die er mir gibt, sind immer goldrichtig.“ Der junge Australier hat eine ganz andere Statur als Di Palma, er ist größer und seine Arme und Beine sind länger als die seines Vorbildes, was auch andere physikalische Hebel bei denselben Bewegungen bedeutet. „Natürlich habe ich den größten Respekt vor diesem Solo und es ist eine Ehre für mich, dass ich es tanzen darf. Doch Giovanni erklärt mir immer wieder, dass ich es nur auf eine einzige Art und Weise tanzen kann – und das ist meine eigene. Ich werde mein Bestes geben.“

Stefan Kulhawec

photocredit: ©Marlies Kross und Claudia Bernhard.