Lässt sich Vergänglichkeit festhalten?
Zu zweit haben wir Marco Kulski bei seiner fotografischen Zeitreise durch einige „Lost Places“ begleitet. Die Faszination dieses Hobbyfotografen war ansteckend: Am Ende der beiden Tage waren auch wir von den Orten und Bildern völlig angefressen und sind mit Hunderten Fotos zu Hause angekommen. Eine Auswahl.
Man nennt sie „Lost Places“ – wörtlich aus einem inkorrekten Englisch übersetzt, bedeutet diese Titulierung so viel wie „Verlorene Orte“. Unbewohnte Häuser, verlassene Kasernen, leerstehende Bunker, ausrangierte Fabrikhallen, ehemalige Villen und Schlösser – die von diesen Ruinen ausgehende Magie rangiert irgendwo zwischen einem Skelett und verwunschenen Dornröschenschloss. Die Welt ist voll davon, doch meist lässt man sie unbeachtet links liegen, wenn man zufällig an ihnen vorbei kommt.
Was gibt es dort schon zu entdecken?!
„Ganz, ganz viel“, sagt Hobbyfotograf Marco Kulski. Der Wunsch, den morbiden Charme dieser verlassenen Orte im letzten Moment vor ihrem endgültigen Verfall noch festzuhalten, hat sich für ihn zu einer Passion entwickelt, einem Hobby, in das er jede Minute der Freizeit und sein ganzes Taschengeld investiert, zum Beispiel um sich ein noch besseres Weitwinkelobjektiv leisten zu können, das auch große Räume in einem Bild einfangen kann.
Szenen wie auf einer Flucht.
Die „Lost Places“ generieren sich schon seit einigen Jahren zu einem richtigen Hype unter Fotografen, auch Marco Kulski ist seit einem halben Jahr völlig geflasht von dieser Entdeckung: „Kürzlich war ich in einem ehemaligen Krankenhaus, in dem ich in meiner Kindheit als Patient gelegen habe. Ich habe sogar die Gänge wieder-erkannt, ihnen haftet heute noch derselbe Geruch von damals an und das ist 35 Jahre her.“ Ein verrücktes Déjà-vu für den inzwischen sehr erwachsenen „Lost-Places-Fotograf“. In Berlin und Umland gibt es hunderte leerstehende, unbewohnte Häuser und Gebäude. Die meisten sind nicht zur Besichtigung freigegeben, bei anderen muss bzw. kann man sich sogar anmelden. Bei ersteren ist die rechtliche Situation eindeutig: Betreten verboten! Sogar eine Anzeige wegen Hausfriedens-bruch ist realistisch, wenn man strengen Wachmännern begegnen sollte. Nun hat jedoch gerade das versteckte Agieren im Geheimen wiederum seinen eigenen Reiz. Aber die Gelände sind ungesichert und bergen tatsächlich Verletzungsgefahr, wenn beispielsweise plötzlich ein großes, tiefes Loch im zugewachsenen Gras einen Zentimeter vor dem letzten Schritt auftaucht …
Doch die Illegalität dieser Fotoaktionen ist es nicht, was Marco Kulskis Interesse ausmacht. Er findet es sogar notwendig, dass diese Gebäude geschützt werden. „Ich habe Lost Places gesehen, die durch Vandalismus oder Brandstiftung nahezu komplett zerstört wurden. So etwas bestürzt mich. Denn ich empfinde diese Orte eher wie einen alten Schatz, den man hebt, Geschichte, die man in letzter Sekunde noch vor ihrem Untergang rettet“, sagt er.
Die Durchreiche in einer ehemaligen Knastzelle mit Gravur.
Geschichte – ein gutes Stichwort. Ganze Bücher, Filme und manchmal sogar mehrere Jahrhunderte tun sich auf, wenn man diese Räume betritt. Die großen Fladen der herabhängenden Tapeten und -zigfachen Farbschichten sprechen Bände mehrerer Generationen und ihrer spezifischen historischen Stationen.
Über die deutsch-russische Geschichte in Berlin und Brandenburg beispielsweise: 1990 waren noch knapp 400.000 russische Armeeangehörige in Deutschland stationiert, hinzu kamen die Familienangehörigen und Kinder. Sie sollten die ehemalige DDR schützen und stellten das größte Truppenkontingent dar, das jemals über einen so langen Zeitraum von einer Besatzungsmacht im Ausland gehalten und versorgt wurde. Streng abgeschottet lebten die Soldaten vom normalen gesellschaftlichen Leben der deutschen Bevölkerung, ab und zu gab es (organisierte) Berührungsmomente, u.a. halfen die Truppen bei der Erntearbeit oder Naturkatastrophen. Und selbstverständlich mussten so viele Menschen auch versorgt werden. Zwischen Schutt und Müll stoßen wir auf diese historischen Zeugnisse, Originale deutsch-russischer Lieferscheine, Lebensmittel wie „Sülze“, „Presskopf“, „gef. Schw.-Bauch“ werden darauf zweisprachig aufgelistet. Klar, dass Kulski für die Aufnahme dieser Motive gerne ein weiteres Mal das Objektiv wechselt.
Feuermelder und Lieferscheine, vieles war zweisprachig.
Es sind diese Art Entdeckungen, seine „Schätze“, die er von seinen Erkundungstouren birgt. Für den Fotografen sind auch Fotomotive wie zurückgelassenes Mobiliar, alte Stühle, Tische, Bilder an den Wänden besonders spannend, manchmal trifft er sogar auf ein Klavier. „Auch Scherben oder alte Schriftzüge aus dem letzten Jahrhundert gehören zu meinen Höhepunkten“, sagt er. Für den Fall, dass er komplett im Dunkeln stehen sollte, hat er eine kleine Taschenlampe dabei.
Die verlassenen Räume erzählen ihre eigene Geschichte.
Wenn dann noch die Strahlen der warmen Frühlingssonne durch die kaputten, klappernden Fenster die drohende und unwiederbringliche Vergänglichkeit, Tristesse und Hoffnungslosigkeit plötzlich in eine Szenerie verwandeln, für die Regisseure in ihren Filmkulissen viel Geld investieren müssen, dann ist Kulski happy. Erfolgreich hat er sich jetzt durch ein derart dichtes Dornengestrüpp gekämpft, dass selbst die böse Fee von Dornröschen neidisch gewesen wäre. Vor ihm tut sich eine ca. 300 Quadratmeter hohe Halle auf, Deckensäulen in zwei Reihen, musterwerfende Schatten entlang der Fensterreihe, an der Rückwand ein riesiges, relativ frisches und kunstvolles Graffiti.
Kulski schmeißt sich auf den (dreckigen) Boden, um seinem neuen Objektiv die beste Perspektive anzubieten und drückt auf den Auslöser, kontrolliert die Aufnahme auf dem Display und schießt rund 20 weitere Aufnahmen aus den verschiedensten Perspektiven von dieser alten Fabrikhalle. Möglicherweise wird es genau diese Ansicht so nie wiedergeben, das ist ein Gedanke, der ihn ständig antreibt. Deswegen hat er auch eine ganze Liste mit Gebäuden angelegt, die in naher Zukunft entfernt oder restauriert werden sollen. „Ich muss diese historischen Orte mit ihren ganz besonderen Stimmungen unbedingt vorher noch festhalten“, hat er sich vorgenommen. Welche das genau sind? Darüber breiten die Lost-Place-Fotografen geflissentlich das große Tuch des Schweigens aus. Denn, wenn ihr Hobby überhandnehmen sollte, wären sie und ihre Orte noch bedrohter, als ohnehin schon.
Eine Zeitreise mit dem Fotoapparat.
English (by Google Translator):
Lost Treasure Hunter
Can impermanence be captured? I and the artist Hassan Elmalik accompanied the photographer Marco Kulski on a tour through some “lost places”.
Text: Bettina Ullmann // Fotos: Marco Kulski, Hassan Elmalik, Bettina Ullmann
They are called „Lost Places“ – literally translated from incorrect English. Uninhabited houses, abandoned barracks, empty bunkers, discarded factory buildings, former villas and castles – the magic emanating from these ruins ranks somewhere between a skeleton and the enchanted Sleeping Beauty’s castle. The world is full of them, but most of the time they are ignored if you happen to pass them. What is there to discover?! “A lot, a lot,” says hobby photographer Marco Kulski. The desire to capture the morbid charm of these deserted places at the last moment before their final decline has developed into a passion for him, a hobby in which he invests every minute of his free time and all his pocket money, for example, to take care of himself to be able to afford a better wide-angle lens that can capture large spaces in one image. The “Lost Places” have been generating a real hype among photographers for several years, and Marco Kulski has also been completely flashed by this discovery six months ago: “I recently went to a former hospital where I was a patient when I was a child. I even recognized the corridors, they still have the same smell from back then and that was 35 years ago. ”A crazy déjà vu for the now very adult lost places photographer today.
The backstage of an old theatre.
There are hundreds of vacant, uninhabited houses and buildings in Berlin and the surrounding area. Most of them are by no means released for viewing, with others you can or even have to register. In the case of the former, the legal situation is clear: Entry prohibited! Even a trespassing charge is realistic when faced with strict security guards. Now, however, it is precisely this kind of hidden activity that has its own charm. But the terrain is unsecured and there is actually a risk of injury if, for example, a large, deep hole suddenly appears in the overgrown grass one centimeter before the last step … But the illegality of these photo campaigns is not what makes Marco Kulski’s interest. He even finds it necessary that these buildings be protected.
We imagine well-dressed couples dancing the waltz.
“I’ve seen lost places that have been almost completely destroyed by vandalism or arson. Something like that upset me. Because I feel these places are more like an old treasure that is being raised, history that is saved from destruction at the last second, ”he says. History – a good keyword. Whole books, films and sometimes even several centuries open up when you enter these rooms. The large flatbreads of the hanging wallpaper and tens of layers of paint speak volumes of several generations and their specific historical stations. About the German-Russian history in Berlin and Brandenburg, for example: In 1990 almost 400,000 Russian army members were stationed in Germany, plus family members and children. They were supposed to protect the former GDR and represented the largest contingent of troops ever held and supplied by an occupying power abroad for such a long period of time. The soldiers lived strictly isolated from the normal social life of the German population, from time to time there were (organized) moments of contact, among other things the troops helped with harvest work or natural disasters. And of course, so many people also had to be looked after. Between rubble and rubbish, we come across these historical testimonies, originals of German-Russian delivery notes, groceries such as “Sülze”, “Presskopf”, “gef. Schw.-Bauch” are listed in two languages. It goes without saying that Kulski likes to change the lens one more time to take these motifs. It is these kinds of discoveries, his „treasures“, that he hides from his exploratory tours. For the photographer, photo motifs such as furniture left behind, old chairs, tables, pictures on the walls are particularly exciting, sometimes he even comes across a piano. „Shards or old lettering from the last century are also among my highlights,“ he says. In case that he should be completely in the dark, he has a small flashlight with him.
Pieces of the bright paint are peeling off the walls.
When the rays of the warm spring sun through the broken, rattling windows suddenly transform the threatening and irretrievable transitoriness, sadness and hopelessness into a scene for which directors have to invest a lot of money in their film sets, then Kulski is happy. He has now successfully fought his way through such a dense thorn thicket that even the evil fairy of Sleeping Beauty would have been jealous. A 300 square meter high hall opens up in front of him, ceiling columns in two rows, pattern-casting shadows along the row of windows, on the back wall a huge, relatively fresh and artistic graffiti. Kulski throws himself on the (dirty) floor to offer his new lens the best perspective and presses the shutter release, checks the recording on the display and shoots around 20 more photos from various perspectives of this old factory building. Perhaps this scene will never appear again, that is a thought that drives him constantly. That’s why he has put together a whole list of buildings that are to be removed or restored in the near future. “I absolutely have to capture these historical places with their very special moods beforehand,” he has resolved to do. Where exactly are they? Above this, the lost-place photographers diligently spread the great blanket of silence. Because if their hobby should get out of hand, they and their places would be even more threatened than already now.