GIBT ES CHANCEN FÜR UNSERE ENKEL, HERR GYSI?


Interview: Bettina Ullmann // Foto: Deutscher Bundestag, Märkische Oderzeitung

Bettina Ullmann: Herr Gysi, ist die Zukunft überhaupt noch zu schaffen?

Gregor Gysi: Es gab in jeder historischen Phase Situationen, die glauben machten, dass die Zukunft nicht zu schaffen sei. Das hat sich in aller Regel als Irrtum herausgestellt. Da ich ein Zweckoptimist bin, glaube ich schon an die Zukunft. Wobei tatsächlich vieles komplizierter wird.

Wo sehen Sie denn noch Chancen für unsere Enkelkinder?

Gregor Gysi: Ich unterscheide zwischen einer politischen, ökonomischen, sozialen, ökologischen, aber auch einer kulturellen Zukunft. Kunst und Kultur als Seismographen, Vermittlerinnen und Botschafterinnen spielen in diesem Zusammenwirken eine herausragende Rolle. Bei der politischen Zukunft geht es um die Frage, wie wieder ein Primat der Politik hergestellt wird. Dass also nicht die großen Konzerne und Banken entscheiden, was die Politik macht, sondern dass die Politik entscheidet, was die Konzerne und Banken machen. Damit das gelingt, werden wir besonders die Jugend brauchen. Nur die Politik wird das nicht schaffen.

Es ist noch nie gelungen, das historische Rad zurück zu drehen.

Gregor Gysi: Doch! Das Nazi-Regime. Wir haben eine funktionierende Wirtschaft, aber keine funktionierende Weltpolitik. Das ist ein Problem für meinen Berufsstand und wird perspektivisch nur gehen, wenn wir die Struktur der UNO ändern und ein allgemein anerkanntes Völkerrecht entwickeln. Die Konzerne und Banken müssen entweder verkleinert werden, was sie übrigens auch viel übersichtlicher machte und Katastrophen im Falle einer Insolvenz verkleinern würde. Oder – wenn sie in dieser Größe bleiben – vergesellschaftet werden, das bedeutet nicht zwingend verstaatlicht, ein Unternehmen kann auch Belegschaftseigentum sein, was bereits vielfach erfolgreich praktiziert wurde. Ich glaube also, dass wir eine solche Entwicklung erleben werden, weil die Politik sonst in gewisser Weise überflüssig würde, was sich wiederum die Wirtschaft auch nicht leisten kann. Die ökonomische Zukunft ist sehr viel schwieriger, weil sie auch mit der ökologischen Nachhaltigkeit und der sozialen Frage zusammenhängt.

„Wir haben eine funktionierende Weltwirtschaft, aber keine funktionierende Weltpolitik.“

Die ökonomische Gegenwart wird zur Zeit von den reichen Ländern bestimmt.
Kann man die
Mehrheit der Erdbevölkerung langfristig vom Wachstum aussperren?

Gregor Gysi: Wir haben in Europa so gelebt, wie wir gelebt haben, weil viele Menschen in Afrika gar nicht wussten, wie wir leben. Die Auswirkungen des Handys haben alle unterschätzt. Nun wissen sie es und es gibt dank des Handys einen weltweiten Lebensstandardvergleich. Dadurch ist die soziale Frage nicht mehr wie früher eine eher nationale, sondern eine Menschheitsfrage geworden. Und dazu fällt der gegenwärtigen Politik nichts anderes als Abschottung ein. Damit lassen sich die Probleme in der Tat nicht lösen!

Wie fällt Ihr Orakelspruch für die globalisierten Wirtschaftsprozesse aus?

Gregor Gysi: Die Digitalisierung unserer Wirtschaftsprozesse wird dazu führen, dass in kürzerer Zeit immer mehr hergestellt werden kann.

„Damit hängt die nächste spannende Frage zusammen, ob wir Menschen mit toter Zeit haben, also sehr viele Arbeitslose oder ob wir die Arbeit weltweit gerecht verteilen werden?“

Da geht es um Arbeitszeitverkürzung mit allen Konsequenzen, die das in sich hat. Leider hat Deutschland den Anschluss an die digitale Wirtschaft komplett verpasst und birgt weitees sozialökonomisches Konfliktpotenzial in sich.

Viele Wählerinnen und Wähler hegen aber offenbar keinen Traum von einer gerechteren Weltgeschichte und wählen lieber die AfD als DIE LINKE – und das ausgerechnet in Ostdeutschland, Ihrem Stammwählergebiet. Das muss Sie doch schmerzen?

Gregor Gysi: Aber ich werde Ihnen doch nicht von meinen Schmerzen erzählen! Nein, ich erzähle nur, wie ich das analysiere und wie ich gedenke, dagegen vorzugehen. Im Umgang mit der AfD gibt es zwei Methoden. Die einen sagen, man muss der AfD entgegenkommen, um deren Wähler zu erreichen und ich sage, „Nein, man muss diese vom Gegenteil überzeugen.“

Mit Gregor Gysi im Gespräch.
Mit Gregor Gysi im Gespräch über die Linken und DIE LINKE im Bürohaus für Abgeordnete, dem Jakob-Kaiser-Haus. (Photocredit: Hendrik Thalheim)

Ich lebe im Ostteil der Republik: Hier existieren auch über 30 Jahre nach der Vereinigung immer noch sehr viele Vorbehalte gegen den deutschen Staat und alle Politikerinnen und Politiker unserer Regierung. Für viele Menschen hier scheint die gesamtdeutsche politische Realität mit ihrer eigenen Situation recht wenig zu tun zu haben. Das ist doch eine Pleite auf der ganzen Linie, die noch lange dunkle Schatten in die Zukunft werfen wird?

Gregor Gysi: Weil die Ostdeutschen mit der deutschen Vereinigung eben Deutsche zweiter Klasse wurden, daran hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert. 2019 lag der Brutto-Durchschnittslohn im Westen über alle Branchen und Betriebsgrößenklassen verteilt bei 3.340 Euro. In den neuen Ländern verdienten die Beschäftigten dagegen im Schnitt nur 2.850 Euro brutto im Monat und sie haben häufig bei gleichen Löhnen eine längere Arbeitszeit.

„Das ist keine Vereinigung.“

Und wenn man zweite Klasse ist, gefällt es manchen, wenn es noch eine dritte Klasse unter ihnen gibt. Das bedient die AfD mit Behauptungen wie: Zuerst hat Euch die Einheit die Arbeitsplätze weggenommen, jetzt machen es die Flüchtlinge. Das ist zwar Quatsch, das kann man widerlegen, aber es ist eine These, die ankommt. Und wer nicht links orientiert ist, sondern eher nationalistisch, kann weder etwas mit unserer Flüchtlingspolitik anfangen noch damit, dass wir für die Rechte der dritten Welt eintreten.

Arbeit für alle, Mietpreise, Grundeinkommen gehören unter anderem zu den politischen Kernanliegen DER LINKEN. Rund 40 Prozent aller Deutschen müssen mit höchstens 2141 Euro im Monat auskommen, 18 Prozent sind massiv von Armut bedroht. Jetzt kommen die Auswirkungen der Pandemie verschärfend hinzu, die man ja noch gar nicht abschätzen kann. Ihr Wahlprogramm trifft für knapp die Hälfte der Deutschen ins Schwarze. Warum erreicht DIE LINKE trotzdem ihre eigenen Zielgruppen nicht?

Gregor Gysi: Das hat damit zu tun, dass genau dieser Bevölkerungsteil den Glauben an die Demokratie vielfach aufgegeben hat und nicht mehr wählen geht. Mir hat mal eine Hartz-IV-Empfängerin gesagt, ich habe CDU gewählt, es hat sich für mich nichts geändert, dann habe ich SPD gewählt, es hat sich nichts geändert, dann habe ich Ihre Partei gewählt und es hat sich für mich auch nichts geändert. Stimmt alles. Ich habe dann versucht, sie zu überzeugen, dass sie ihre Interessen dadurch wahrnehmen soll, dass ihre Seite gestärkt wird und sich der Einfluss vergrößert. Bei der diesjährigen Bundestagswahl wollen wir ein zweistelliges Votum erreichen, also mindestens zehn Prozent.

Und wenn Sie jetzt auch mal die selbstkritische Brille aufsetzen? Es gibt Wähler, die durchaus links wählen würden, aber nicht DIE LINKE?

Gregor Gysi: Was Stalin angerichtet hat, ist eine Katastrophe, dasselbe gilt auch für Mao Tse-tung und andere. Das alles gehört zur Geschichte der LINKEN, ob man will oder nicht. Es gab aber natürlich auch immer eine demokratische Linke, die sich anders verstanden und organisiert hat.

„Bloß Geschichte wird man nicht los. Man muss nur die Leute davon überzeugen, dass das für einen selbst nicht in Frage kommt.“

Zweitens: Für bestimmte Zielgruppen sind unsere Botschaften zu intellektuell. Andererseits, ich bin zum Beispiel ein Gegner von Obdachlosigkeit, aber glauben Sie, dass mich ein Obdachloser wählt? Man darf trotzdem seine Ziele nicht aufgeben, weil es ja auch in den Mittelschichten und unter den Intellektuellen viele Leute gibt, die das genauso sehen und Dich genau deshalb wählen. Außerdem sind die Linken oft zerstritten, das lockt dann auch nicht so viele Wählerinnen und Wähler an. Linke sind oft überzeugt, sie hätten die Welt besser verstanden als andere, auch als andere Linke. Da haben die Grünen aus ihrer Geschichte gelernt – die haben nicht weniger Meinungsverschiedenheiten als wir, aber Du liest nichts darüber. Bei uns steht das in jeder Zeitung, weil wir das alles öffentlich machen, das machen die Grünen klüger.

Ist in Bezug auf die LINKEN nicht auch schon immer eine Angst vor Wohlstandsverlust im Spiel gewesen?

Gregor Gysi: Ich sage immer, ich möchte den Spitzensteuersatz von Helmut Kohl, der betrug 53 Prozent – und ich kannte Helmut Kohl, das war kein Linksextremist. Dieser Steuersatz würde für das Einkommen gelten, was ein Mensch über 100.000 Euro hinaus im Jahr verdient. Dann habe ich die Mitte und die Unteren entlastet, Leute, die so verdienen wie ich, müssen mehr bezahlen. Man darf es mit den Steuern nicht übertreiben, aber an solch einer Berechnung geht niemand zugrunde. Aber einige haben Angst, dass schon bei 1000 Euro im Monat 53 Prozent Steuerbelastung gelten sollen. Das ist natürlich falsch, da würde man bei uns überhaupt keine Einkommensteuer zahlen. Die 53 Prozent würden erst auf den ersten Euro über den 100.000 erhoben. Deshalb sage ich ja immer, wir müssen die Freigrenzen bei den Steuern viel stärker betonen. Eine Vermögenssteuer würde ich ja auch ohne die Berechnung der eigenen Wohnung oder des eigenen Hauses erst einführen, wenn man mehr als eine Million Euro besitzt. Für Betriebsvermögen sollten die Freibeträge noch höher sein.

Sie treten nun mit 73 Jahren noch mal in Ihrem Wahlkreis Berlin Treptow-Köpenick als Direktkandidat an. Gerade dort spielen Kriterien wie Verarmung und sozialer Wohlstand eine wichtige Rolle. Was möchten Sie dort ganz konkret erreichen?

Gregor Gysi: Ich möchte für die Bürgerinnen und Bürger, Vereine, Bürgerinitiativen und Unternehmen in meinem Wahlkreis da sein und ihnen, so weit es möglich ist, auch im konkreten Einzelfall weiter helfen. Politik muss verständlich sein, erklärt werden und die Sichten und Probleme der Bürgerinnen und Bürger wahr- und aufnehmen. Dem widme ich mich mit ganzer Kraft.

Was kann DIE LINKE Ihrer Meinung nach besser als die anderen Parteien?

Gregor Gysi: DIE LINKE stellt die soziale Frage und die Friedensfrage viel konsequenter. Die anderen müssten jetzt einräumen, dass sie unrecht hatten mit ihrem Einsatz in Afghanistan. Es hat sich dort nichts verbessert, kein Problem wurde gelöst. Im Gegenteil! Überhaupt muss man weg vom militärischen Denken hin zu diplomatischem Denken, was viel zu selten geschieht.

„Wir waren und bleiben immer die Partei, die sich für die Gleichstellung von Ost und West und der Geschlechter eingesetzt hat und einsetzt. Die ökologische Nachhaltigkeit ist uns wichtig und muss immer auch in sozialer Verantwortung gedacht werden.“

Ich kann nicht einfach ein Braunkohlerevier schließen, ich muss den Kumpels sagen, welchen gleichbezahlten Job sie am nächsten Tag haben werden. Die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen sind nicht so leicht, aber daran müssen wir arbeiten. Und wenn wir uns dann noch etwas weniger stritten und vielleicht auch überzeugender aufträten, manchmal auch eine für alle Menschen verständlichere Sprache fänden und nicht um jedes Wort auf dem Parteitag feilschten, als ob das ganze Leben davon abhinge, ja, dann wird auch die Zustimmung zu uns mehr steigen. Und natürlich ist auch der Humor nicht ganz unwichtig. Wir wissen nicht alles besser, sondern gehen an die Aufgaben anders heran und das Andere ist wichtig.

Herr Gysi, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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